Die EMS („Evangelische Mission in Solidarität) ist ein Netzwerk von 25 Kirchen und fünf Missionsgesellschaften in Asien, Afrika, Europa und dem Nahem Osten. Der Fachsbereichleiter für den Nahen Osten, Dr. Uwe Gräbe gibt mit Datum vom 2.10. folgenden Bericht:
1. Angesichts der sich zuspitzenden Lage in Nahost hat die EMS bereits vorgestern eine Erklärung zum Jahrestag des 7. Oktober 2023 veröffentlicht. Sie finden die Erklärung hier auf Deutsch: https://ems-online.org/info/aktuelles/ein-jahr-nach-dem-7-oktober-2023 und hier auf Englisch: https://ems-online.org/en/get-informed/news/one-year-after-7-october-2023. Die EMS drückt darin ihre Solidarität mit ihren Mitgliedern in Nahost aus, die sich mitten im Krieg für eine Kultur des Friedens einsetzen. Zugleich bitten wir darin ebenso herzlich wie dringend um Spenden für die Johann Ludwig Schneller-Schule im Libanon, die ihren Dienst unter unsäglichen Bedingungen tut. Dazu mehr unter Punkt 3
…
- Die Johann Ludwig Schneller-Schule (JLSS) in Khirbet Qanafar, West Bekaa, Libanon, versucht gerade, den Betrieb unter Kriegsbedingungen wieder aufzunehmen. Wie ich bereits in einer früheren Mail geschrieben hatte, war das Internat schon zum Ende des letzten Schuljahres weit über Kapazität hinaus belegt, mit zusätzlichen Internatsgruppen in der alten Farm und im Gästehaus. Zum Beginn des neuen Schuljahres, Ende September, sah es nun so aus, als würden diese Zahlen noch einmal übertroffen werden. Die neu angemeldeten Schülerinnen und Schüler aus bitterarmen Familien strömten nur so. Doch dann kam letzte Woche die Anweisung des Erziehungsministeriums an alle Bildungseinrichtungen im Land, ab sofort und bis zum 7. Oktober aus Sicherheitsgründen ihren Betrieb auszusetzen. Gestern ist also niemand aus dem Wochenende zurückgekehrt; die JLSS liegt verlassen. Nun versucht die neue Direktorin, Ms. Odette Haddad, im Austausch mit allen Mitarbeitenden einen Plan zu entwickeln, ob und wie nächste Woche der Betrieb wieder aufgenommen werden kann. Die Einrichtung liegt im Kriegsgebiet, aus dem die Menschen fliehen. Das Schulgelände selbst scheint zwar sehr sicher zu sein – aber die Straßen ringsum sind es nicht. Hier kommt es zu regelmäßigem Beschuss. Unter den heutigen, tagesaktuellen Bedingungen wäre es unverantwortlich, die Kinder und das Personal auf den Weg zur JLSS zu schicken, so dass für den Unterricht jetzt auch wieder die Online-Formate reaktiviert werden, die während der Pandemie (auch dank großzügiger Spenden aus Deutschland und der Schweiz) eingerichtet wurden.
Vorgestern kamen die Einschläge einmal relativ nah, als das israelische Militär das Haus eines Scheichs im benachbarten Ort Jub Jenine durch Raketenbeschuss zerstört hat. Dabei wurde auch das Haus eines Mitarbeiters der JLSS beschädigt und ein Auto der Familie zerstört. Hier muss also von Tag zu Tag geschaut werden, was möglich ist. Sobald die Einrichtung aber von Kindern und Personal wieder gefahrlos erreicht werden kann, wird der Bedarf an Internatsplätzen so enorm groß sein, dass zusätzliche Spenden wirklich dringend benötigt werden. Daher der Aufruf, der Ihnen hiermit nochmals ans Herz gelegt sei – siehe Punkt 1.
- In dem kleinen, alten Schulgebäude der National Evangelical Church of Beirut (NECB) im Stadtviertel Hamra hat sich die Zahl der Flüchtlinge aus dem Süden mittlerweile auf 300 erhöht. Wer das Haus kennt, mag erahnen, wie unglaublich voll es dort jetzt ist. Die NECB stellt das Gebäude gerne den Notleidenden zur Verfügung – denn ganz Beirut ist ja überfüllt mit Flüchtlingen. In der Hamra kann man als Fußgänger nur noch auf der Straße laufen, da auf den Bürgersteigen überall Flüchtlinge campieren. Zum Glück gibt es in Beirut sehr, sehr viele NGOs, die sich jetzt für die Flüchtlinge engagieren, und Lebensmittel, Wasser und Matratzen sind weiter verfügbar – so dass sich hier momentan zumindest keine Hungersnot abzeichnet. In anderen Teilen des Landes, die Flüchtlinge aufgenommen haben (z.B. Tripoli) könnte es aber bereits ganz anders aussehen. Zur angespannten Lage in Beirut trägt bei, dass israelische Kamera-Drohnen die Flüchtlinge aus dem Süden bis hier her verfolgt haben – wahrscheinlich, um mögliche Hizbollah-Angehörige zu identifizieren. Die Drohnen fliegen über allen Straßen der Hamra, teilweise bis zu den Hauseingängen. Unter den Menschen verbreitet sich die Sorge, dass mögliche Identifizierungen durch Drohnen-Bilder auch zu gezielten Anschlägen auf die Identifizierten führen könnten, was angesichts der Fülle an Menschen unweigerlich weitere Opfer nach sich ziehen würde.
Die Near East School of Theology (NEST), ein kleines theologisches Seminar in der Hamra, dem wir eng verbunden sind, hat die Lehrveranstaltungen daher ebenfalls wieder auf Online-Betrieb umgestellt. Heute und gestern haben die letzten ausländischen Studierenden – vier junge Männer aus der Republik Armenien – das Land verlassen. Wichtig ist die NEST jetzt jedoch als Wohnraum für Studierende der Medizin und Pflegeberufe von den benachbarten Universitäten, vor allem der AUB. Diese jungen Leute werden angesichts der schwierigen humanitären Lage für die medizinische Versorgung der Menschen im Stadtviertel dringend gebraucht.
Auch die deutschsprachige evangelische Gemeinde in der Hamra hat mittlerweile die letzten Expats aus ihren Reihen verabschiedet. Nur das ARD-Team sendet noch von dort – vielleicht haben Sie in der Tagesschau bereits die vertraute Häuserzeile entdeckt. Die Pastorin, Renate Ellmenreich, wird am kommenden Sonntag noch versuchen, das Erntedankfest mit einigen älteren Frauen aus der Gemeinde zu feiern, die im Libanon verheiratet sind.
- Der gestrige Abend war in Israel ein Schockmoment. Der größte Teil der 180 iranischen Raketen konnte vom „Iron Dome“ zwar abgefangen werden, doch nach den Raketenalarmen im gesamten Land (einschließlich Jerusalem) mussten die Menschen in der Regel zwei Stunden in den Bunkern verbringen, von wo sie die Einschläge und die Explosionen des Abwehrfeuers miterlebt haben. Ich habe mit einem jüdischen Großvater gesprochen, der im Bunker seine panischen Enkelkinder tröstete; ein palästinensischer Freund hat einen Einschlag in beängstigender Nähe miterlebt. Die Reaktionen meiner israelischen Bekannten sind so unterschiedlich, wie die Bevölkerung Israels nun einmal bunt und divers ist. „Diesen Krieg hat uns unsere rechte Regierung eingebrockt“, sagt der eine. Er will am nächsten Samstag wieder gegen Bibi Netanyahu auf die Straße gehen. „Gott möge unsere Armee stärken und schützen und uns vor der Vernichtung durch unsere Feinde bewahren“, sagt die andere. Bei alledem beginnt heute Abend – in diesen Minuten – das jüdische Neujahrsfest. „Shana tova“, „ein gutes Jahr“, kommt nicht mehr ganz so leicht über die Lippen. „Shana joter tova“, sagen einige. Zumindest ein „besseres Jahr“.
Zugleich werden irgendwo in den Tunneln unter Gaza noch immer rund 100 israelische Geiseln festgehalten. Ihre Situation wird immer hoffnungsloser. Ein „Deal“ zu ihrer Befreiung ist in weite Ferne gerückt. Ihr Schicksal ist aber prägend für die israelische Lebensrealität. Ein „besseres Jahr“ auch diesen Männern, Frauen und Kindern?
Viele unserer palästinensischen Freunde befürchten, dass angesichts des Kriegsdreiecks Israel-Libanon-Iran ihre eigene Situation aus dem Blick geraten könnte. Noch immer wird im Gazastreifen gekämpft, werden Menschen schlimm verwundet – und vor allem im Westjordanland häufen sich die Übergriffe israelischer Siedler gegen die palästinensische Bevölkerung. Nablus stand da zuletzt im Fokus – nach den Ereignissen in Jenin wurde darüber kaum noch berichtet. Insbesondere jetzt während der Olivenernte kommt es auch immer wieder zu Angriffen auf die palästinensischen Olivenbauern.
Bei alledem tut das anglikanische Ahli Arab Hospital in Gaza weiterhin treu seinen Dienst. Es steht. Täglich werden hier 550-600 Patienten ambulant behandelt, 70 Patienten stationär versorgt, 20-24 Operationen durchgeführt. Was das Personal dieses Krankenhauses leistet, ist eigentlich unvorstellbar. Hier spielen wohl die echten Heldengeschichten. Die EMS sammelt übrigens weiterhin auch Spenden für dieses Krankenhaus unserer anglikanischen Mitgliedskirche.
- Jordanien: Eine Insel der Ruhe und (relativen) Stabilität inmitten all dieses Irrsinns. Gestern flogen die iranischen Raketen über Jordanien hinweg in Richtung Israel. Man konnte sie sehr gut am Nachthimmel sehen. Drei junge Freiwillige haben wir über das Ökumenische Freiwilligenprogramm (ÖFP) der EMS seit September wieder nach Jordanien entsandt; eine vierte ist dabei, zu diesem Kreis hinzuzustoßen. Auch sie ist bereits im Land. Vier ganz wunderbare junge Menschen, von denen zwei am anglikanischen Holy Land Institute for the Deaf (HLID) in Salt ihren Dienst tun, und zwei an der Theodor Schneller-Schule (TSS) auf der Stadtgrenze zwischen Amman und Russeifa. Mit tauben und taubblinden Jugendlichen arbeiten sie in Salt; mit Kindern ganz vom Rande der Gesellschaft an der TSS. Auch sie haben gestern die Raketen gesehen: tödliche Leuchtpunkte am Himmel, die praktisch über ihre Köpfe hinweg flogen. Eine Erfahrung, die man als 18jährige junge Frau nicht unbedingt machen möchte. Und doch haben sie alle ruhig und besonnen reagiert, heute ganz normal wieder ihren Dienst angetreten. Denn wir halten Jordanien immer noch für ein sicheres Land. Es gibt keine Reisewarnung, die Lufthansa fliegt ganz normal, selbst Reisegruppen können das Land besuchen, welches international alles dafür tut, aus diesem Krieg herausgehalten zu werden. An der TSS renovieren sie sogar das Internatsgebäude nach allen Regeln des Kinderschutzes, damit Mädchen und Jungen aus christlichen und muslimischen Familien hier weiterhin behütet und im selbstverständlichen Miteinander aufwachsen können. Ach ja: Auch dafür sammeln wir Spenden.
Wir bleiben angewiesen auf Gottes Gnade und die Großzügigkeit zahlreicher Menschen.
Nun habe ich Ihnen einen langen Text zugemutet.
Möge Frieden werden.
Ihr Uwe Gräbe
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